Chile


 

 

 

 

The loneliest place in Chile (Oktober 2022)

In Puerto Natales nehmen wir eine Fähre, die Crux Australis, durch die Fjordlandschaft nach Norden. Sie ist das einzige öffentliche Verkehrsmittel, das die abgelegene Siedlungen, die nur per Schiff erreichbar sind, verbindet.

Den ganzen Nachmittag wird die Fähre beladen: Kisten, Möbel, Material für Baustellen, Lebensmittel, Autos, Poststücke - alles, was man so im Alltag braucht. Uns wird ein ebener Platz auf der Ladefläche zugewiesen, wir haben Stromanschluss und können im Auto schlafen. Es sind nur wenige Passagiere an Bord und lange haben wir den Eindruck, wir wären die einzigen "Ausländer". Aber dann hören wir beim Abendessen zwei Männer, die sich Englisch unterhalten. Sie sind allerdings so ins Gespräch vertieft, dass wir nicht stören möchten.

Nach 24 Stunden sind wir in Puerto Eden, einer jener Orte, die nur vom Wasser aus erreichbar sind. Plötzlich herrscht Hektik an Bord. Viele Waren werden ausgeladen und sofort auf wartende kleine Boote verfrachtet, die sie zu ihren Zielorten bringen. Auch die beiden anderen "Fremden" tragen fleißig Seile, Ketten, Schachteln von Bord. Da wir nicht an Land gehen dürfen - "Covid" sagt eine strenge Dame in Uniform - fängt Martin an den beiden beim Entladen zu helfen. Und endlich entsteht ein Gespräch. Greg, ein Engländer, lebt hier "in the remotest and lonliest place in Chile". Er begleitet und unterstützt Forschergruppen, die sich mit Walen, Gletschern, Wasserverschmutzung, etc. beschäftigen. Er erzählt, dass die Einwohnerzahl des kleinen Ortes dramatisch zurück geht, weil seit einigen Jahren der Schellfisch ausbleibt. Auch die Muscheln, die zweite Einnahmequelle für die Einwohner, werden weniger. Eine Zeit lang philosophieren wir über den Klimawandel, und dann drückt er mir seine Telefonnummer in die Hand. "Perhaps you come back, we need a geographer here!" sagt er schmunzelnd.

Hier zu arbeiten und zu leben - das wäre sicher eine unglaubliche Herausforderung und mit intensivem Lernen verbunden.


 

 

 

 

Los Leones – ein Restaurant in der Einschicht (Oktober 2022 - Carretera Austral)

Um 3:00 morgens kommen wir mit dem Fährschiff Crux Australis in Puerto Yungay an. Das Schiff hat uns von Puerto Natales durch die Fjordlandschaft nach Norden mitgenommen.  Wir fahren auf den nächsten Parkplatz im Hafen und schlafen weiter.

Gegen 7:00 hören wir Autos vorbeifahren. Etwas verschlafen blicken wir hinaus und sehen schon eine Autoschlange vor der Anlegestelle der nächsten Fähre. Sie muss man nehmen um nach Villa O'Higgins zu gelangen, wo die Carretera Austral beginnt.

Also raus und in Erfahrung bringen, wann diese Fähre ablegt. Eine Autotür wird geöffnet und wir hören ein freundliches "Good morning, can I help you?". Englisch - wie erleichternd, so früh am Morgen ist Spanisch zu sprechen immer noch eine große Herausforderung. Richard wartet hier schon seit einer Stunde um auf die nächste Fähre zu kommen, die in 30 Minuten ablegen soll. Er meint, wir sollten uns so rasch als möglich anstellen, die Plätze sind beschränkt und die Ladung funktioniert auf Basis "first come – first serve". Er und seine Freundin Paula sind auf dem Weg nach O´Higgins, wo sie "property" erstanden haben. Sie laden uns ein mit ihnen zu kommen. Wunderbar!

Nach der kurzen Überfahrt genießen wir die Strecke durch dichten patagonischen Feuchtwald, entlang tiefer Schluchten und über Flüsse. O´Higgins ist ein kleines Dorf, das von den meisten nur in den Sommermonaten bewohnt wird. Fast jedes Haus vermietet Zimmer oder Cabanas, am Ortseingang liegt ein Campingplatz. Im Zentrum befinden sich eine Kirche, eine Schule, ein kleines Museum und ein Geschäft. Das ist es auch schon.

Paula und Richard, die in Santiago de Chile leben, möchten hier ihren Traum verwirklichen. Sie haben "Los Leones" gekauft, ein Restaurant, das bis zur Corona Krise von Franzosen geführt wurde und sich einen guten Ruf erworben hatte. Die ehemaligen Besitzer sind in ihre Heimat zurück gekehrt und jetzt soll Los Leones, nach 2 Jahren Stillstand, wieder zum Leben erweckt werden. Wanderer, Radler oder Overlander sollen  sich an guter, einfacher chilenischer Küche erfreuen. 

Gemeinsam machen wir uns ein Bild, und da wird sofort deutlich, dass es bis zur Verwirklichung des Traums noch ein weiter Weg ist. Das Dach ist undicht, die Küche ziemlich verdreckt und nicht vollständig eingerichtet, im Gastraum gibt es nur wenige wackelige Stühle und einen provisorischen Tisch, der Durchlauferhitzer tropft. Gemeinsam tragen wir die mitgebrachten Utensilien ins Haus. Martin installiert das W-Lan und steigt mir Richard aufs Dach, um die undichte Stelle zu finden.

Beim Abendessen schildern uns die beiden ihre weiteren Pläne. Richard ist voller Enthusiasmus, Paula etwas skeptischer. Sie hat einen guten Job beim Finanzamt und möchte diesen auch weiterhin, vor allem als finanzielle Absicherung, behalten. Wie das genau funktionieren soll, ist ihnen noch nicht ganz klar. In einem sind sie sich aber sicher: sie möchten weg aus Santiago. Sie sagen, die Stadt wäre nicht mehr sicher, schmutzig und laut. Es sei nicht mehr die Stadt, die Paula aus ihrer Kindheit und Jugend kennt. Richard ist aus England und lebt erst seit kurzem dort. Lange erzählen sie von den sozialen und politischen Problemen in Chile, die auch der junge Präsident nicht so einfach lösen kann. Die neue Verfassung, an der Vertreter/innen aller Volksgruppen mitgearbeitet haben, wurde erst vor Kurzem in einer Volksabstimmung abgelehnt und damit eine Chance vertan, das immer noch schwer lastende Erbe Pinochets etwas abzuschütteln. 

Die beiden sind jung und voll Hoffnung auf eine bessere Zukunft, die sie hier, in diesem kleinen Dorf hoch in den Anden an der Grenze zu Argentinien, erleben möchten. Wir versprechen, für ihr Lokal Werbung unter Reisenden zu machen. Möge die Übung gelingen!


 

 

 

 

Hier regiert die Natur (Oktober 2022)

Es regnet seit Tagen, auch als wir die Carretera Austral verlassen und ins Vale Exploradores abbiegen. Dieses Seitental verbindet den Lago Carrera mit dem Patagonischen Eisschild, dem Glaciar San Rafael. Die Piste windet sich entlang des Flusses, rechts und links schießt Wasser die steilen, dicht bewachsenen Hänge herab, die hängenden Gletscher sind im Nebel nur zu erahnen. So viel Wasser von allen Seiten!

Das Campo Alacaluf von Thomas und seiner Frau Kathrin liegt zirka auf 2/3 der Strecke zum Nationalpark. Er hat uns offensichtlich kommen gehört, denn wir haben noch nicht eingeparkt als er uns schon von der Türe aus zuruft "Kommt rein in die gute Stube!". Seit mehreren Jahren leben sie und ihre Tochter hier in dieser Abgeschiedenheit. Sie haben sich vor Jahren in Patagonien verliebt und das Grundstück günstig erwerben können. Ihr Hostel ist beliebt bei Reisenden und Expeditionsteams, bekannt sind sie vor allem für gut angelegte Wanderwege und ihre Kuchen.

Thomas erzählt intensiv von den Herausforderungen des Alltags. Hier kann man nur mit den Naturgewalten leben und sich arrangieren, zu dominant sind Regen, Schnee, Überschwemmungen und Wind. Immer wieder fällt zum Beispiel der Stromgenerator aus, weil der Zufluss verblockt ist. Mühsam muss Thomas dann am steilen Hang das Material zur Seite schaffen, damit alles wieder läuft. Eine der größten Herausforderungen der letzten Jahre war ein Gletscherlauf, der die Zufahrt von Puerto Tranquilo aus für 6 Monate blockierte und einen neuen See entstehen ließ. Thomas und die Bauern im oberen Tal organisierten eine provisorische "Fähre", damit zumindest eine Notverbindung aufrecht erhalten werden konnte. Als ein Hubschrauber der chilenischen Armee kam um sie zu evakuieren, winkten sie ab, denn sie wollten das Tal unter keinen Umständen verlassen.

Die Pandemie, die ihre Einnahmequelle Tourismus völlig zum Stillstand brachte, war dann eine weitere riesige Herausforderung, die sie nur knapp finanziell überlebten.

Ihre Tochter möchte ab Herbst in Puerto Tranquilo in die Schule gehen und nicht mehr zu Hause unterrichtet werden. Sie muss unter der Woche bei Freunden im nächsten Ort wohnen, an ein Pendeln ist bei den Bedingungen nicht zu denken. Thomas hofft, dass sein altes Auto durchhält und er sie zumindest für das Wochenende nach Hause holen kann. Aus seinen Worten hören wir Verständnis für den Wunsch seiner Tochter, aber auch Bedauern und etwas Traurigkeit.

Keine Frage, das Leben in solch einer Umgebung ist unglaublich herausfordernd – für alle.


 

 

 

 

Dia todos los Santos (Ende Oktober 2022)

In Contao, schon fast am Ende der Carretera Austral, scheint endlich die Sonne. Wir blicken aufs Meer, Delfine ziehen vorbei, Pelikane fixieren das Wasser. Wir genießen die Wärme. Am Weg haben wir Einheimische beim Muschelsammeln beobachtet und haben es ihnen gleich getan. Ein großer Sack Miesmuscheln wartet darauf verarbeitet zu werden.

Am Nachmittag gesellt sich ein älterer Herr zu uns. Bereitwillig akzeptiert er einen Espresso und erzählt aus seinem Leben als Fischer und Witwer. Mit ganz trauriger Stimme berichtet er, dass seine Frau vor einem Jahr gestorben ist und dass ihn die kommenden Feiertage, Allerheiligen und Allerseelen, sehr bedrücken. Unser Spanisch ist noch nicht so gut, daher verstehen wir nicht alles, aber seine Traurigkeit ist intensiv zu spüren. Um ihn abzulenken zeige ich ihm den Sack mit Muscheln und bitte ihn mir zu erklären, was ich damit tun soll. Sein Gesichtsausdruck ändert sich schlagartig und er ist ganz in seinem Element. Bereitwillig hilft er mir sie zu reinigen, macht mich auf schlechte Muscheln aufmerksam und beschreibt, wie ich sie zubereiten soll.

Als alle im Topf sind, verabschiedet er sich und geht nicht mehr ganz so gebückt ins Dorf zurück.


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